Für zehn Tage wurde das Ferienheim „Solnetschnyj“ bei Moskau zum echten deutsch-russischen Haus. Die Flurwände zierten Plakate mit deutschsprachigen Aufschriften und auf den Zimmern wurde Deutsch gesprochen. Am 19.-28. August fand hier das Internationale Jugendcamp für Russlanddeutsche unter dem Motto „Russlanddeutsche in den Zivilgesellschaften Russlands und Deutschlands“ statt. 

 

Russlanddeutsche als Volksgruppe existieren, solange es Menschen gibt, die in der eigenen Familie Deutsch sprechen, Volkslieder singen, Feste feiern und ihren Glauben bewahren. Aber es kann keine Zukunft geben ohne eine neue Generation, die mit den deutschen Traditionen heranwächst und sich als Teil der großen und multinationalen Gesellschaft unseres Landes betrachtet. Sich in der modernen Gesellschaft zurechtfinden und Neues über Kultur und Traditionen der Russlanddeutschen erfahren – das war die Botschaft der Veranstalter an die Teilnehmer des internationalen Camps. Und diese ist angekommen: Mehr als 100 Jugendliche aus ganz Russland sowie aus verschiedenen Städten Deutschlands lernten gemeinsam die deutsche Sprache, besuchten Seminare zur ethnischen Identität und Selbstorganisation der Russlanddeutschen und zur Erziehung junger Führungspersönlichkeiten.

 

„Dies ist ein gemeinsames deutsch-russisches Projekt, das durch das Ministerium für regionale Entwicklung der Russischen Föderation und das deutsche  Bundesministerium des Innern unterstützt wird“, erzählt Olga Hartmann, Vorsitzende des Jugendrings der Russlanddeutschen. „Die Einmaligkeit dieses Projektes besteht darin, dass nicht nur junge Russlanddeutsche aus Russland, sondern auch aus Deutschland daran teilnehmen. Die Idee entstand nicht von ungefähr. Viele Russlanddeutsche, die in ihre ursprüngliche Heimat ausgewandert sind, möchten Kontakte zu ihren Freunden in Russland weiter pflegen und die Kultur der russlanddeutschen Volksgruppe auch in Deutschland aufrechterhalten. Umgekehrt möchten viele Jugendliche in Russland in Kontakt mit ihren Landsleuten im Ausland bleiben. So profitiert schließlich  jeder von der Kommunikation im Rahmen dieses Camps“.

Russisch? Deutsch? Russlanddeutsch!

Das Thema der nationalen Identität wurde für die Campteilnehmer zu einem der wichtigsten. Die Seminare zur Identitätsförderung, in denen sich die Teilnehmer intensiv mit der Frage auseinandersetzten, wer sie nun eigentlich sind – Russlanddeutsche, Deutsche oder vielleicht doch Russen – waren für die jungen Menschen besonders spannend.

 

„Der Jugendring der Russlanddeutschen ist bereits seit einigen Jahren auf dem Gebiet der Stärkung des ethnischen Selbstbewusstseins junger Russlanddeutscher tätig“, sagt Marina Tschibisowa, Leiterin der Gruppe für ethnische Identität, Doktor der psychologischen Wissenschaften, Dozentin des Lehrstuhls für Ethnopsychologie der Moskauer Städtischen Universität für Psychologie und Pädagogik. „Und ich sehe mit großer Freude, dass sich diese Arbeit sehr lohnt. Jugendliche, die an ethnokulturellen Projekten des JdR, wie z.B. deutsche nationale Dörfer, teilgenommen haben, legen ein deutlich stärkeres ethnisches Selbstbewusstsein an den Tag als andere. So haben sie, als sie gebeten wurden, Symbole der Russlanddeutschen zu zeichnen, nicht wie andere Teilnehmer Bier, deutsche Flagge oder Würstchen dargestellt, sondern die Bibel, nationale Gerichte und Elemente der volkstümlichen Kleidung“.

 

Es genügt nicht, die deutsche Sprache zu beherrschen oder einen deutschen Namen zu haben, um sich einen Russlanddeutschen nennen zu können. Man muss sich dazu bekennen. Das nationale Selbstbewusstsein wird einem nicht in die Wiege gelegt, es können Jahre vergehen, bis man „den Ruf des Blutes“ hört. So passierte es mit einer Teilnehmerin des Jugendcamps – vor kurzem tauschte sie ihren russischen Nachnamen gegen einen deutschen.

„Noch vor sieben Jahren war die Bewegung der Russlanddeutschen nur ein Hobby für mich – heute ist es mein Leben“, sagt Inna Garder (Kaechtina) aus Kislowodsk. „Bis zur Teilnahme an einem Sprachcamp 2002 habe ich mich weder für die deutsche Sprache noch für die Traditionen der Russlanddeutschen interessiert, nicht einmal dafür, warum meine Vorfahren einen deutschen Namen tragen. Dann hat sich alles geändert. Ich begann zu erkennen, dass mich das alles wirklich interessiert und dass es mir gut tut, einen deutschen Namen zu tragen. Ich war damals 14, wegen bürokratischer Probleme musste ich noch vier Jahre warten, bis ich volljährig wurde und meinen Namen gegen einen deutschen tauschen konnte. Vor einem Monat ist mein Traum endlich in Erfüllung gegangen – jetzt heiße ich Garder“.

 

Statt Altersgruppen – Projektgruppen

 

In diesem Jugendcamp gab es keine Altersgruppen, dafür gab es Projektgruppen. Bereits am ersten Tag konnte jeder Teilnehmer entscheiden, was er abends nach dem Blockseminar machen wollte – Informationsarbeit, Kinoclubs, Vorbereitung thematischer Tage und Exkursionen, ethnokulturelle Veranstaltungen mit Einsatz der Volksmusik.

 

Neben der Ausarbeitung von Hilfsmaterialien für jeweilige Themenbereiche musste jede Projektgruppe jeweils eine „Prüfung“ ablegen, also eine Veranstaltung organisieren. So hat die für „ethnokulturelle Angelegenheiten“ zuständige „De-Party“-Gruppe einen ganzen Märchenabend durchgeführt. Dabei sollte jede Gruppe ein deutsches Märchen jeweils anders inszenieren – als Western, Seifenoper, Bollywood-Kino oder Krimi. Die Exkursionsgruppe hat eine unvergessliche thematische Führung durch Moskau organisiert und durchgeführt.

 

 

Mit einem deutschen Kinoabend hat auch der Kinoclub seinen Beitrag zum Erlernen der deutschen Sprache geleistet. Je nach dem Beherrschungsgrad konnten sich die Teilnehmer beispielsweise Zeichentrickfilme, „Der Himmel über Berlin“ oder „Der amerikanische Freund“ ansehen. Die Musikgruppe begeisterte immer wieder mit deutschsprachigen Liedern und unvergesslichen Auftritten, während die Gruppe für Informationsarbeit morgens die noch nicht ganz aufgewachten Campbewohner mit ihrer Fotopräsentation weckte.

 

Kommunikation ohne Ende

 

Die Teilnahme der Jugendlichen und Referenten aus Deutschland war eine große Freude für junge Menschen aus Russland. Im Deutschunterricht für Fortgeschrittene konnten die Teilnehmer über spannende Fragen diskutieren und von den deutschen Dozentinnen Rita Dorsch und Anna Henning viel Neues über das moderne Deutschland erfahren.

 

Aber auch für Jugendliche aus Deutschland war das Camp eine wichtige Erfahrung. „Ich bin Russlanddeutscher, meine Eltern kamen nach Deutschland, als ich noch ein Kind war“, erzählt Igor Christ aus Stuttgart. „Ich studiere Soziologie und Politologie, aber Russland behandeln wir im Studium so gut wie gar nicht, was sehr schade ist. Ich will nicht meine Wurzeln und die russische Sprache vergessen, deshalb habe ich mich für ein Praktikum bei der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland entschieden. Durch die Teilnahme an diesem internationalen Camp werde ich russische Jugendliche besser verstehen können, schließlich werde ich mit Aussiedlern arbeiten, die gerade erst nach Deutschland gekommen sind und sich noch nicht eingelebt haben. Ich muss aber sagen, dass es für mich leichter ist, hier mit den russischen Jugendlichen zu kommunizieren, als mit den deutschen. Sind es vielleicht meine Gene?“

 

Zehn Tage im Non-Stop-Modus, jede Minute als kleine Offenbarung. Einige mögen sagen, dass so etwas nicht auszuhalten sei und dass das Gehirn wegen zu viel Informationen explodieren könnte. Doch das stimmt nicht. Die Teilnehmer selbst nennen diese Zeit „Zehn Tage, die das ganze Leben verändert haben“ – und das wird hoffentlich wahr sein.